(von Anas Nashef)
Die mit Corona einhergehenden Schutzmaßnahmen machten die Multifamilienarbeit, ein Ansatz, der seine Energie in erster Linie aus der Gruppensituation schöpft, unmöglich. Demensprechend ist die Freude nun besonders groß, dass diese Arbeit seit Anfang 2023 fortgesetzt werden kann.
Was ist Multifamilientherapie (MFT)?
Diese Form der Therapie bündelt verschiedene, vor allem systemisch therapeutische Ansätze und findet als Setting in einer großen Gruppe mit mehreren Familien mit einem gemeinsamen Nenner statt. Der Ansatz wurde bereits vor mehreren Dekaden in London durch Herrn Prof. Eia Asen (Anna Freud Centre) entwickelt und in Deutschland – vor allem im Kontext von Essstörungen – durch Herrn Prof. Michael Scholz († 2021) in Dresden (Familientagesklinik, TU Dresden) weiterentwickelt, der bis zu seinem Tod der prominenteste Vertreter der MFT in Deutschland war. In unterschiedlichen Kontexten hat sich die MFT seit den 90er Jahren im europäischen Raum fortentwickelt und wird mit diversen Konzepten eingesetzt, etwa im Rahmen der Schule, der Klinik und der Jugendhilfe.
Seit wann gibt es Multifamilientherapie mit Menschen mit Autismus?
Vor über zehn Jahren wurde die MFT in die Autismus-Therapiezentren Debstedt und Bremerhaven eingeführt. Die ersten Ergebnisse haben uns ermutigt, dieses Modell für Menschen mit Autismus weiterzuentwickeln und erstmalig als Dauerangebot und -modell für die Arbeit mit Familien mit Kindern und Jugendlichen mit hochfunktionalen Autismusformen zu etablieren. Seitdem erlebt die MFT eine stetige Weiterentwicklung in Bremerhaven und es finden regelmäßig MFT-Gruppen in unseren Zentren statt.
Gibt es aktuell eine MFT-Gruppe?
Ja! Seit Januar dieses Jahres und nach der Pause durch die pandemiebedingten Einschränkungen wurde eine neue Gruppe ins Leben gerufen, die aktuell bis Ende Mai tagt. Die MFT-Gruppen sind (nach unserem Bremerhavener Modell) geschlossene Gruppen von sechs bis neun Familien mit einem Kind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen mit hochfunktionalem Autismus. Die aktuelle Gruppe besteht aus neun Familien und insgesamt über 35 Teilnehmenden und wird angeleitet von Wiebke Teichmann, Lea Beckmann und meiner Person.
Wie sieht die weitere Entwicklung aus?
Die Entwicklung der MFT im ATZ Bremerhaven ist in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht beachtlich. Diese Entwicklung umfasst mehrere Ebenen und offenbart weitere Entwicklungspotenziale, die wir gegenwärtig und in der – nahen – Zukunft weiterverfolgen werden.
- Nach Ende der laufenden Gruppe im Mai 2023 wird eine neue Gruppe voraussichtlich für den Herbst geplant.
- Die MFT-Arbeit mit unseren Familien wird mit unterschiedlichen Instrumenten evaluiert und die aktuell laufende Gruppe extern wissenschaftlich begleitet.
- Angesichts der bundesweiten Anfragen zu unserem Konzept unterstützen wir Träger und Institutionen in anderen Bundesländern bei der Etablierung unseres MFT-Modells.
- Unsere Erfahrungen aus den – großen – MFT-Gruppen nutzen wir, als Beratungsgrundlage in der Arbeit mit Institutionen (z. B. Schulen) hinsichtlich des Transfers von – überaus positiven – Großgruppenerfahrungen als prototypisches Beispiel einer inklusiven Gesellschaft.
- Erste konzeptionelle Überlegungen und (internationale) Kontakte hinsichtlich des Einsatzes im Kontext von Familien mit Kindern mit Frühkindlichem Autismus existieren bereits und sollen ausgebaut werden.
- Wir sind bei Fachtagungen und Kongressen vertreten und stellen dort unsere Arbeit vor. So waren wir 2016 bei der 8. Jahrestagung der MFT in Mühlhausen vertreten, fungierten gemeinsam mit anderen Institutionen als Mitveranstalter beim Fachtag der MFT in Bremerhaven im Jahr 2017 und präsentierten 2018 unser Konzept bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP)-Tagung „20 Jahre Multifamilientherapie an der KJP des Universitätsklinikums Dresden“. Auch 2023 werden wir unsere Erfahrungen im Rahmen der ersten Europäischen MFT-Konferenz vortragen.
- Inzwischen liegen mehrere Veröffentlichungen zu unserer Multifamilienarbeit vor. Weitere Veröffentlichungen folgen.
Wo kann ich mehr über MFT im Autismuskontext lesen?
Interessierte finden weitere Informationen zu unserer Arbeit in unseren bisherigen Veröffentlichungen.
Hier eine Auswahl von Literaturquellen:
- Nashef, A. (2015): Multifamilientherapie für Asperger-Betroffene und deren Familien. Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung. 2/2015, Verlag modernes Lernen, Dortmund
- Nashef, A. (2017): Multifamilientherapie für Asperger-Betroffene und deren Familien. In Rittmann, B., Rickert-Bolg, W. (Hrsg.): Autismus-Therapie in der Praxis: Methoden, Vorgehensweisen, Falldarstellungen. 168-177, Kohlhammer, Stuttgart
- Nashef, A., Mohr, L. (2017): Kinder und Jugendliche mit einer Autismusspektrumstörung. In Asen, E. & Scholz, M. (Hrsg.): Handbuch der Multifamilientherapie. 105-115, Carl-Auer, Heidelberg
- Nashef, A. (erscheint 2023): Wirkt Multifamilientherapie bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus und deren Familien? Kontext, Zeitschrift für systemische Perspektiven. V & R, Göttingen