Ungeachtet vereinzelter autismusspezifischer Angebote bleibt die Beschäftigungsrate von Menschen mit Autismus deutlich unter der der Allgemeinbevölkerung. Dieser Umstand ist angesichts des chronischen Fachkräftemangels umso erstaunlicher. So gibt das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) beim Bundesarbeitsministerium an, dass 55 Prozent der Unternehmen in Deutschland den Fachkräftemangel als Risiko sehen. In der damit einhergehenden Akzentverschiebung der freien Wirtschaft von Begriffen wie Leistungsfähigkeit und Leistungssteigerung hin zur Erhöhung der Attraktivität von Arbeitsplätzen – zwecks Gewinnung und Erhalt von Personal – scheint die Verbesserung der Beschäftigungssituation von Menschen mit Autismus – wie bereits erwähnt mit wenigen Ausnahmen – bisher kaum Beachtung gefunden zu haben.
Herausforderungen zeigen sich sowohl während des Bewerbungsprozesses als auch innerhalb von bereits bestehenden Beschäftigungsverhältnissen. Schon im Vorfeld einer Bewerbung berichten viele Menschen mit Autismus von eigenen Motivationsgrenzen, welche auf die zu erwartenden Rahmenbedingungen des Arbeitsplatzes zurückzuführen sind. Im Bewerbungsprozess selbst offenbaren sich zudem die autismusimmanenten Schwierigkeiten etwa in der Kommunikation, in der Unvorhersehbarkeit der Bewerbungs- und Arbeitssituation oder in dem kontextuell anzupassenden Verhalten (Wie der Titel eines Zeitartikels vom 2. September 2016 deutlich macht: „Zu ehrlich für das Vorstellungsgespräch“).
Des Weiteren enden die Herausforderungen für Menschen mit Autismus in der Regel nicht, wenn sie in ein Beschäftigungsverhältnis aufgenommen werden. Da es sich bei Autismus um eine persistierende Phänomenologie handelt, die sich in einem divergierenden Erlebens- und Verhaltensmuster äußert, bleiben die vorzufindenden Rahmenbedingungen der Arbeitsstelle von immenser Bedeutung. Diese an sich nicht ungewöhnlichen Rahmenbedingungen eines Arbeitsplatzes, wie etwa das Vorhandensein unterschiedlicher sensorischen Reize oder die Erwartung von gleichzeitig zu erledigenden Aufgaben, können bei Menschen mit Autismus Stressreaktionen auslösen und mittelfristig traumatische Reaktionen bzw. die Entwicklung komorbider Störungen stark begünstigen.
Im Rahmen der im Autismus-Therapiezentrum Bremerhaven tagenden und inzwischen über 10 Jahren bestehenden offenen Erwachsenengruppe, die seit 2020 aufgrund der Corona-Pandemie online stattfindet, wurde auch das Thema Arbeit in den Blick genommen. Ohne Anspruch auf Repräsentativität wurden von den Teilnehmenden zwei Punkte einstimmig als zentral für einen autismusfreundlichen Arbeitsplatz genannt: Konstante Rahmenbedingungen und ein reizarmer Arbeitsplatz. Die Teilnehmenden unterstrichen ebenfalls die Wichtigkeit von Rückzugsräumen, die Freiwilligkeit bei der Teilnahme an Betriebsfeiern, den Wunsch nach konkreten Rückmeldungen seitens der Vorgesetzten sowie die direkte Kommunikation auf der Sachebene.
In Anbetracht der genannten Punkte stellt die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine bessere Teilhabe von Menschen mit Autismus am Arbeitsleben keine besonders komplizierte oder gar unmögliche Aufgabe für Arbeitgeber*innen dar. Trotzdem bleibt die Förderung der Teilhabe von Menschen mit Autismus am Arbeitsleben eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, welche nicht nur die Wirtschaft, sondern ebenfalls die Politik und schlussendlich jede und jeden Einzelne/n von uns miteinschließt. Dass sich Diversität und Inklusion öffentlich durchsetzen konnten, ist eine erfreuliche Entwicklung, jetzt gilt es, diese verstärkt im Arbeitsalltag zu praktizieren.