Seit Mitte März befinden wir uns alle in einem Ausnahmezustand. Davon betroffen ist zwar die gesamte Bevölkerung, jedoch gestalten sich die Auswirkungen deutlich einschneidender für diejenigen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen auf Unterstützungs- und Betreuungsleistungen angewiesen sind. Für die von uns betreuten Menschen mit Autismus wirken sich die bekannten Einschränkungen im täglichen Leben unterschiedlich schwer aus: Während einige, zum Rückzug neigende, Menschen das „entschleunigte“ Leben mit nur noch wenigen Kontakten bei deutlich geringeren Anforderungen, die an sie gestellt werden, als entlastend erleben, erleben andere diese Zeit der Einschränkungen als große Belastung.
Trotz intensiver Aufklärung und des Bemühens des pädagogischen Teams, diese schwierige Zeit für alle Betroffenen erträglich zu gestalten, ist es oft kaum möglich, die in den vielen Empfehlungen, Leitlinien und Verordnungen festgehaltenen Vorgaben einzuhalten, da ein Teil der Bewohner*innen sich weiterhin nicht einschränken möchte und die damit verbundenen Risiken ausblendet bzw. nicht nachvollziehen kann. D. h., die Coronaregeln können unter Umständen nicht umfänglich eingehalten werden und es fällt oft schwer, die gebotenen Abstands- und Hygieneregeln so zu befolgen, wie es sein sollte. Damit steigt das Infektionsrisiko im Hause sowohl für die Betreuten, als auch die Mitarbeitenden. Da die Wohngruppe selbstverständlich einen offenen Charakter hat, können wir letztlich nur beraten, dies jedoch nicht unterbinden. Seitens der Wohn- und Betreuungsaufsicht sowie des Gesundheitsamtes wurde angesichts dieser Schwierigkeit darauf hingewiesen, dass diesbezüglich unbedingt die üblichen Hygieneregeln von unserer Seite einzuhalten sind. Es bleibt zu hoffen, dass dies auf Dauer ausreichend ist.
Schon mehrfach kam es wg. der o.g. Einschränkungen zu aggressiven Übergriffen, weil die Situation für einige Menschen nicht mehr zu ertragen war. Dies belastet die ohnehin angespannte Atmosphäre zusätzlich. Hinzu kommt, dass es hinsichtlich der Entwicklungen der letzten Jahre in puncto Selbstbestimmung, Inklusion und Integration aktuell doch recht ruhig geworden und teils zum Stillstand gekommen ist – es sind teils Rückfälle in alte Verhaltensmuster festzustellen.
Auch der Sprachgebrauch in dem endlosen Strom der vielen Verordnungen, Richtlinien und Empfehlungen der letzten Monate hat sich verändert. So werden z.B. die „ besonderen Wohnformen“ wieder vermehrt als „stationär“ bezeichnet und die Selbstbestimmung der Menschen, die auf Betreuungs- und Unterstützungsleistungen in Gemeinschaftseinrichtungen angewiesen sind, wird behördlich verordnet mehr eingeschränkt, als es im „normalen“ Leben der Fall ist. Ist das gerecht?
Die ohnehin bereits angespannte Situation hat sich zusätzlich verschärft, da der genehmigte Personalschlüssel nicht ausreicht, wenn auf Dauer tagesstrukturierende Maßnahmen, wie z.B. die Betreuung in der WfbM oder in der Tagesförderung, wegbrechen bzw. nur stark eingeschränkt stattfinden. Ergebnis: Betreuung muss ganztägig in den Wohneinrichtungen stattfinden. Im Gegensatz zu diesen Einrichtungen können wir, die wir ein Zuhause bieten, die Betreuten nirgendwo hinschicken und nicht einfach „den Laden dichtmachen“, wenn die Personaldecke dünn wird oder man nicht mehr bereit ist, (Ansteckungs-) Risiken zu übernehmen.
Es drängte sich beim Lesen der vielen Verordnungen in der letzten Zeit immer wieder der Eindruck auf, dass wir offenbar in den Wohneinrichtungen über unendliche Ressourcen verfügen, was finanzielle Mittel, Schutzkleidung, Desinfektionsmittel, Personal (doppelte Besetzung im COVID 19 – Fall) und Zeit anbelangt, um alle Vorgaben einzuhalten. Dem ist nicht so.
Auf die Wohneinrichtungen wurde in den letzten Monaten eine Fülle zusätzlicher Aufgaben übertragen, die mit den vorhandenen Ressourcen bewältigt werden mussten und weiterhin müssen. Pandemiepläne mussten ebenso erstellt werden wie spezielle Reinigungs- und Desinfektionspläne, Hygienekonzepte und Gefährdungsbeurteilungen im Hinblick auf COVID 19. Woher die Zeit, das Know How und die dafür erforderlichen Mittel kommen sollen, scheint in der Politik kein großes Thema zu sein. Informationsflut von allen Seiten: Alle sichern sich ab für den „Ernstfall“ und schieben Verantwortung weiter. Sind die Wohnangebote das „Ende der Fresskette“?
Die Personaldecke wird zusätzlich bei Coronaverdachtsfällen bis zum Vorliegen des Testergebnisses strapaziert. Dies tritt mit zunehmender Tendenz auf. Alle Mitarbeitenden halten den Dienst in den Wohneinrichtungen aufrecht – oft auf Kosten der eigenen Gesundheit und obwohl manch eine/r schon lange nicht nur „am Limit“, sondern schon längst darüber ist. Das funktioniert nur, wenn ein gewisses Maß an Idealismus und Aufopferungsbereitschaft vorhanden ist – grundlegende Voraussetzungen für eine Berufswahl in der sozialen Arbeit.
Wir alle hoffen, dass wir diese schwierige Zeit gemeinsam bewältigen!