Leif Schomann: Lieber Anas Nashef, zunächst herzlichen Glückwunsch zu diesem tollen Jubiläum und herzlichen Dank für Ihr zwanzigjähriges Wirken bei Autismus Bremen e. V.! Drehen wir die Zeit etwas zurück: Bevor Sie nach Deutschland kamen, lebten Sie ca. 25 Jahre in Israel, wo Sie 1973 in Taiba das Licht der Welt erblickten. Erzählen Sie uns bitte ein bisschen aus dieser Zeit und über Ihr Engagement in der dortigen Friedensorganisation „Reu’t-Sadaka“.
Anas Nashef: Vielen herzlichen Dank! Wenn ich an meine Friedensarbeit zurückdenke, dann kann ich heute sagen, es gibt kaum etwas Komplexeres als Friedensarbeit während einer (Dauer-)Kriegszeit. Im Rahmen dieser Arbeit versuchen wir genau das Gegenteil von dem in Gang zu setzen, was besonders in schwierigen Zeiten als Konsens gilt: Verbinden statt trennen, reden statt schweigen, Gemeinsames fördern statt Unterschiedliches fokussieren und nicht zuletzt wertschätzen statt dämonisieren.
Daher bestand unsere Aufgabe darin, einen bescheidenen Beitrag für neue Diskurse zu leisten, Diskurse, die mit Begegnung beginnen. So war meine – vielleicht auch schönste – Aufgabe, während meines Studiums an der Hebrew University in Jerusalem, eine Plattform für Begegnungen zu gründen, um israelische und palästinensische Jugendliche zusammenzubringen und eine langfristige Arbeit in diesen Gruppen – trotz aller Widrigkeiten – zu ermöglichen. Heute kann ich sagen, dass ich sehr viel von diesen Jugendlichen gelernt habe: Der Austausch mit und zwischen den Jugendlichen und ihre offenbarten – teilweise sehr schmerzhaften – Erfahrungen waren prägend für uns alle und unterstrichen in unverkennbarer Art und Weise die Wichtigkeit, auch und gerade in schwierigen Zeiten ein offenes Ohr für die andere Perspektive zu pflegen.
Leif Schomann: Im Herbst 1998 sind Sie dann nach Deutschland gekommen. Was war der Anlass hierfür und wie kamen Sie dann vier Jahre später zu Autismus Bremen e. V.?
Anas Nashef: Die Entscheidung nach Deutschland zu kommen würde ich als ein doppeltes Kreisschließen beschreiben. „Doppelt“, weil es eine gemeinsame Entscheidung meiner damaligen Partnerin und mir war. „Kreisschließend“, weil wir beide eine persönliche Verbindung nach Deutschland hatten und eine Art „transgenerationale Rückkehr“ anstrebten. Die Familie meiner damaligen Partnerin hat Deutschland Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts nach Palästina verlassen und ist somit dem Naziverbrechen rechtzeitig entkommen. Meine rheinländische Mutter hat Deutschland Anfang der 70er- Jahre mit meinem Vater verlassen, der bis dato in München studierte, und ist mit ihm nach Israel, seine Heimat, gegangen. Deutschland war für uns somit ein sehr präsenter Teil unserer Sozialisation in Israel. So sind wir 1998 nach Heidelberg gezogen und haben zunächst für ein Jahr an einer der ältesten Universitäten Europas mit Freude die deutsche Sprache erlernt. Ein Jahr später siedelten wir nach Bremen um, um dort zu studieren. Auf Autismus Bremen e. V. bin ich während einer Praktikumssuche gestoßen. Mein aufgenommener Kontakt zu Haus Hemelingen mündete dann in einer Einstellung als pädagogischer Mitarbeiter vor Ort.
Leif Schomann: In welchen Einrichtungen waren Sie dann bei Autismus Bremen e. V. in welcher Funktion tätig?
Anas Nashef: Die erste bewusste Begegnung mit Menschen mit Autismus war im Rahmen meiner pädagogischen Tätigkeit im Haus Hemelingen in der Zeit zwischen Juni 2002 und Ende des Jahres 2004. Seit der Gründung des ATZ in Bremerhaven arbeitete ich dort als Therapeut für Klient*innen aller Altersgruppen und aller Subdiagnosen aus dem Autismus-Spektrum. Zur damaligen Zeit hatten wir lediglich drei Räume in der Virchowstraße im Klinikum am Bürgerpark. Seit 2007 habe ich verschiedene Leitungsfunktionen inne, zunächst als stellvertretender Leiter im ATZ Bremerhaven, mit der Gründung des ATZ in Debstedt zusätzlich als Leitung dort, seit Juli 2015 Leitung der beiden Einrichtungen in Bremerhaven und Debstedt sowie der im ATZ Bremerhaven angesiedelten Heilpädagogischen Frühförderstelle. 2019 kam das neugegründete ATZ in Cuxhaven dazu. Ungeachtet dieser Leitungsfunktionen war mir die Arbeit mit unseren Klient*innen sowie deren Familien immer besonders wichtig. Diese pflege ich weiterhin in Form von Therapie, Beratung, Diagnostik und – was mir besonders am Herzen liegt – der für die Belange „unserer“ Klient*innen sowie deren Familien in Debstedt und Bremerhaven konzipierten autismusspezifischen Multifamilientherapie.
Leif Schomann: Perspektivisch ist geplant, dass Sie Teil der Geschäftsführung der Autismus-Therapiezentren und der Beratungsstelle werden. Worauf freuen Sie sich bei dieser neuen Herausforderung am meisten?
Anas Nashef: Zunächst blicke ich mit Hochachtung auf all das zurück, was in den Therapiezentren und in der Beratungsstelle in den letzten Jahren geleistet und erreicht worden ist. Ungeachtet jedweder Funktion bereiten mir die Impulse und Ideen der Mitarbeitenden immer eine große Freude. Aus meiner Sicht sind der Ausgangspunkt und das Hauptziel der Funktion der Geschäftsführung die optimale therapeutische Versorgung von Menschen mit Autismus und deren Familien. Eine optimale Versorgung umfasst sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte. Quantitativ bedeutet kurzgefasst, möglichst viele Klienten*innen möglichst schnell in Therapie aufnehmen zu können. Die Qualität bezieht sich auf die Weiterentwicklung unserer Einrichtungen, der Therapie und der therapeutischen Methoden in enger Verbindung mit der Wissenschaft und der Praxis. Für die Erreichung dieses Ziels bedarf es einer intensiven gemeinsamen Arbeit sowohl mit internen als auch mit externen Akteuren, um etwa die Wartezeiten zu reduzieren, weitere Entwicklungen zu forcieren und die konzeptionelle Arbeit zu stärken bzw. neue Konzepte zu etablieren. Nicht minder wichtig stellt sich für mich die enge Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden unserer Einrichtungen dar, um – wie auch bei der Friedensarbeit – die Perspektiven aller zu berücksichtigen und zu einer möglichst hohen Zufriedenheit beitragen zu können.
Um auf Ihre Frage zurück zu kommen: Ich freue mich ganz besonders auf die Mitgestaltungsmöglichkeit und auf die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden im Dienste genannter Zielsetzungen.
Leif Schomann: Lieber Anas Nashef, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg und Freude bei Ihrer Arbeit.